ZfL INFO 07/2024: ERC-Forschungsprojekt »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung«
Neues ERC-Projekt »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung: Literarische Akte des Konstruierens afro-europäischer Welten und der Infragestellung europäischer Grundlagen« hat begonnen
Das im Rahmen des Programms Horizon Europe mit einem ERC Starting Grant geförderte Projekt Schwarze Narrative transkultureller Aneignung: Literarische Akte des Konstruierens afro-europäischer Welten und der Infragestellung europäischer Grundlagen (AFROPEA, Grant Agreement 101075842) hat am ZfL seine Arbeit aufgenommen. Geleitet wird das Projekt von der Literaturwissenschaftlerin Dr. Gianna Zocco. Zum Team gehört außerdem die Postdoktorandin Sandra Folie, dazu kommen im Laufe des Jahres zwei Doktorand*innen. Das auf fünf Jahre angelegte Projekt wird mit etwa 1,5 Millionen Euro gefördert.
Im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen literarische Texte afro-europäischer, afrikanischer und afrikanisch-diasporischer Autor*innen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, die sich auf verschiedene Weisen auf Europa beziehen: Sei es, dass sie einen europäischen Schauplatz wählen, die Geschichte Europas und seiner Bewohner*innen behandeln oder ihr Verhältnis zu unterschiedlichen europäischen Sprachen reflektieren. Allen untersuchten Texten ist gemeinsam, dass sie sich auf komplexe, teils ambivalente und oft subversive Weise mit Fragen von Eigentum und Aneignung auseinandersetzen.
Die Beschäftigung mit Europa findet sowohl auf thematischer als auch auf formal-ästhetischer Ebene statt und wird im Projekt theoretisch mit dem Begriff der transkulturellen Aneignung gefasst. Damit rücken einerseits die gewaltvolle primäre Aneignung des afrikanischen Kontinents und seiner Bewohner*innen und die besitzergreifende Setzung von Europa als weiß in den Fokus. Andererseits öffnet der Begriff der Aneignung den Blick für die genuin literarischen Akte des Imaginierens von Europa als ›Afropea‹: Die Texte erzählen von Afropäer*innen, die schon vor hunderten von Jahren in Europa heimisch waren; sie nutzen ästhetische Mittel aus dem europäischen Kanon zu neuen Zwecken; oder sie machen in ironischer Weise Gebrauch von Eigentumsbegriff und kolonialem Diskurs. Indem die Texte explizit als Schwarze Erzählungen transkultureller Aneignung betrachtet werden, wird ein neues Verständnis dafür entwickelt, wie die Literatur Schwarzer Autor*innen gängige Vorstellungen von territorialem und kulturellem Eigentum, Welterbe und den Ambiguitäten europäischer Zugehörigkeit kritisiert, aktiv gestaltet und bisweilen offen ablehnt.
Indem das Projekt die bislang nur unvollständig erforschte historisch wie geografisch breite Tradition der subjektiven und ästhetisch innovativen Imagination Europas in der Literatur Schwarzer Autor*innen analysiert, erschließt es der europäischen Komparatistik ein neues Feld. Besonderes Interesse gilt dabei afro-europäischem Schreiben, das in den Zwischenräumen und Graubereichen jenseits der Dichotomie von Kolonisatoren und Kolonisierten stattfindet. Daher liegt ein Schwerpunkt auf literarischen Texten abseits der Weltsprachen und primären Literatursprachen der afrikanischen Diaspora, Englisch und Französisch, sowie auf Texten, die sich auf Mittel- und Osteuropa und auf Gebiete jenseits der Metropolen beziehen. Zusätzlich sind Schwerpunkte zu unterschiedlichen Gattungen afro-europäischen Schreibens geplant: In den einzelnen Teilprojekten sollen u.a. das Genre der slave narratives, die Anthologie sowie Reiseerzählungen im Mittelpunkt stehen.
Die Komparatistin Gianna Zocco war von 2019 bis 2023 Marie-Skłodowska-Curie-Stipendiatin am ZfL mit dem Projekt Deutschland und seine Geschichte in afroamerikanischer Literatur. Sie promovierte 2013 mit einer Arbeit zum Motiv des Fensters als Öffnung ins Innere in Erzähltexten seit 1945 und war danach als Universitätsassistentin und Lehrbeauftragte an der Universität Wien sowie 2016/2017 mit einem Stipendium der Max Kade Foundation an der Columbia University in New York City tätig.
Sandra Folie ist ebenfalls Komparatistin und war zuletzt wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zuvor war sie als Universitätsassistentin und Lehrbeauftragte an der Universität Wien tätig. Sie promovierte 2020 mit einer Arbeit zu Labelingpraktiken neuer Welt-Frauen*-Literaturen, die mit dem Preis der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung ausgezeichnet wurde.
Gemeinsam organisierten Folie und Zocco ein Blankensee-Kolloquium zum Thema Sketches of Black Europe. Imagining Europe/ans in African and African Diasporic Narratives, das im Frühjahr 2022 am ZfL stattfand. Das daraus hervorgegangene Sonderheft der Zeitschrift CompLit. Journal of European Literature, Arts and Society ist am 10. Januar 2024 erschienen.