Schwarze Narrative transkultureller Aneignung: Literarische Akte des Konstruierens afro-europäischer Welten und der Infragestellung europäischer Grundlagen

Wie wird Europa in den literarischen Texten afroeuropäischer, afrikanischer und afrikanisch-diasporischer Autor*innen imaginiert? Ist es ein ›weißer‹ Kontinent, der seine Schwarzen Bewohner*innen zu ewigen Außenseiter*innen und unerwünschten Eindringlingen macht? Ist es ein nur mehr provinzieller Teil einer immer stärker von anderen Zentren dominierten Welt? Oder ist es ein Ort, der zur ersten oder zweiten Heimat werden, ein Leben in Sicherheit und Wohlstand erlauben oder die Bildung neuer, inklusiver Gemeinschaften ermöglichen kann?

Im Zentrum des Projekts stehen auf Europa bezogene, in unterschiedlichen Sprachen verfasste literarische Texte afroeuropäischer, afrikanischer und afrikanisch-diasporischer Autor*innen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Den Texten ist gemeinsam, dass sie sich auf komplexe, teils ambivalente und oft subversive Weise mit Fragen von Eigentum und Aneignung auseinandersetzen. Diese Beschäftigung findet mal explizit, mal implizit sowohl auf thematischer als auch auf formal-ästhetischer Ebene statt und wird im Projekt theoretisch mit dem Begriff der transkulturellen Aneignung gefasst. Damit rücken einerseits die gewaltvolle primäre Aneignung des afrikanischen Kontinents und seiner Bewohner*innen im europäischen Kolonialismus und die besitzergreifende Setzung von Europa als weiß in den Fokus. Diese wirken bis heute in neokolonialen Strukturen und Bildern nach, z.B. dem der ›Festung Europa‹ oder des ›farbenblinden Kontinents‹, der vorgibt, race nicht sehen zu können. Andererseits öffnet der Begriff der Aneignung den Blick für die genuin literarischen Akte des Imaginierens und Konstruierens von Europa, z.B. als ›Afropea‹ oder – wie im alternate history-Szenario von Bernardine Evaristos Roman Blonde Roots – als ›Aphrika‹, ein geografisch an der Position Europas gelegener Kontinent, dessen Schwarze Bewohner*innen die weiße Bevölkerung eines feudal-rückständigen, auf der Südhalbkugel gelegenen ›Europas‹ versklavt haben. Andere Texte erzählen etwa von Afropäer*innen, die schon vor hunderten von Jahren in Europa heimisch waren, nutzen ästhetische Mittel aus dem europäischen Kanon zu neuen Zwecken oder machen in ironischer Weise Gebrauch von Eigentumsbegriff und kolonialer Rhetorik. So schreibt etwa der afropäische ›Flaneur‹ Johny Pitts in Afropäisch: »Weil ich zur schwarzen Community Europas gehöre, ist das Europa, von dem ich spreche, auch ein Teil meines Erbes, und es war Zeit für mich, den Kontinent zu bereisen und zu feiern, als ob er mir gehörte.«

Ziel des Projekts ist es, durch die Betrachtung der Texte als Schwarze Erzählungen transkultureller Aneignung ein neues Verständnis dafür zu entwickeln, wie die Literatur Schwarzer Autor*innen gängige Vorstellungen von territorialem und kulturellem Eigentum, Welterbe und den Ambiguitäten europäischer Zugehörigkeit kritisiert, aktiv gestaltet und bisweilen offen ablehnt. Zudem soll über die im Projekt vorgenommene heuristische Umkehrung des Begriffs der kulturellen Aneignung ein frischer und differenzierter Blick auf dessen unterschiedliche Verwendungsweisen ermöglicht werden: Der gegenwärtige, meist negativ-wertende Gebrauch im Sinn von cultural appropriation soll abgegrenzt werden von älteren, moralisch neutralen oder positiv-emanzipatorischen Nutzungen etwa im Sinn eines postkolonialen writing back.

Indem das Projekt die bislang nur unvollständig erforschte, historisch wie geografisch breite und ästhetisch innovative Tradition der Imagination Europas in der Literatur Schwarzer Autor*innen analysiert, erschließt es ein neues Feld der europäischen Komparatistik und forciert den Dialog zwischen Komparatistik und dem sich in den letzten Jahren formierenden, interdisziplinären Feld der African European Studies. Besonderes Interesse gilt dabei afroeuropäischem Schreiben, das in den Zwischenräumen und Graubereichen jenseits der Dichotomie von Kolonisatoren und Kolonisierten stattfindet. Daher liegt ein Schwerpunkt auf literarischen Texten abseits der Weltsprachen und primären Literatursprachen der afrikanischen Diaspora, Englisch und Französisch, sowie auf Texten, die sich auf Mittel- und Osteuropa und auf Gebiete jenseits der Metropolen beziehen. Zusätzlich sind Schwerpunkte zu unterschiedlichen Gattungen afrikanisch-europäischen Schreibens geplant: In den einzelnen Teilprojekten sollen u.a. das Genre der slave narratives, die Anthologie sowie Reiseerzählungen im Mittelpunkt stehen.

Dieses Projekt wird vom European Research Council (ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizont Europa der Europäischen Union gefördert (grant agreement 101075842: AFROPEA). 2023–2028
Leitung: Gianna Zocco
Bearbeitung: Sandra Folie

Publikationen

Sandra Folie, Gianna Zocco (Hg.)

Sketches of Black Europe in African and African Diasporic Narratives
CompLit. Journal of European Literature, Arts and Society

Bd. 6
Classiques Garnier, Paris 2024, 257 Seiten
ISSN 2782-0874; ISBN 978-2-406-16075-5

Sandra Folie

Gianna Zocco

Veranstaltungen

Workshop
14.11.2024 – 15.11.2024

Dualla Misipo: »Der Junge aus Duala«. Literaturwissenschaftliche Perspektiven auf ein frühes Werk der Schwarzen deutschen Literatur

Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, Pariser Str. 1, 10719 Berlin

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Buchvorstellung & Gespräch
04.07.2024

Die deutsche Literatur der Haitianischen Revolution

online via Zoom

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Vortrag
14.06.2024 · 09.00 Uhr

Sandra Folie: African Mobilities of No Return? The “Europe Trap” in Women’s Neocolonial Enslavement Narratives

University of Eastern Finland, Joensuu Campus, Joensuu

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Vortrag
06.06.2024 · 11.30 Uhr

Sandra Folie, Gianna Zocco: Deutsche Provinz, Provinz Deutschland? Welthaltige Provinzen und deutscher Provinzialismus in Schwarzer deutscher Genreliteratur: »Elektro Krause« und »Die Schwarze Madonna«

Eberhard Karls Universität Tübingen

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