Die beiden ersten Jahrgänge der Zeitschrift Documents von 1929 und 1930 sind nebeneinander im Anschnitt zu sehen, das Bild ist schwarz-weiß.
Workshop
03.07.2024 – 05.07.2024

Dokumentarische Evidenz – Zu einem besonderen Genre sprachlicher und praxeologischer Vergangenheitserkenntnis

Ort: Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Ilse-Zimmermann-Saal, Pariser Str. 1, 10719 Berlin
Organisiert von Nicolas Berg (DI), Barbara Picht (ZfL)
Kontakt: Barbara Picht

Workshop des Lab 1.1 »Sprache, Evidenz und Sinnwelt« des Leibniz-Forschungsverbunds Wert der Vergangenheit

In allen Vergangenheitserzählungen – ob wissenschaftlich oder nicht – erscheint das historische Dokument oder das dokumentarische Prinzip als Schlüsselargument der avisierten Evidenz. Dokumenten und Dokumentarischem wird bereits im Alltagsverständnis eine hohe Autorität zugesprochen. In erkenntnistheoretischen Reflexionen kommt ihnen a priori ein hoher Stellenwert zu. Als Schriftstück, als Fotografie oder historische Filmaufnahme tritt das Dokument als Beleg oder sogar Beweis für Faktizität und Authentizität auf. Es reklamiert eine besondere Bedeutung und formuliert als Prinzip eine allgemeine Verbindlichkeit, als sei es per se der Wahrheitsgarant der eigenen Vergangenheitserzählung.

Dokumentationen sind ein eigens zu betrachtendes Genre. Der Dokumentarismus formuliert seinen Anspruch beispielsweise dadurch, dass er Texte von anderen Texten unterscheidet und sie durch Anführungszeichen als Zitat kenntlich macht oder indem er Bilder und Filmaufnahmen so kommentiert, dass sie aus einer Illustration zum Argument werden. Doch auch der Dokumentarismus benötigt Narrativität, schafft diese zugleich mit, arbeitet ihr voraus, gibt ihr eine Richtung und bereitet so die Glaubwürdigkeit von Aussagen vor, die dann in Para- und Meta-Texte ausgelagert werden. So betrachtet haben alle Dokumente immer Anteil an beidem, an Text und Metatext. Sie halten Distanz zum herkömmlichen Text und sind mit diesem zugleich eng verwoben.

Darüber hinaus taucht das dokumentarische Prinzip als eine Manifestation von Praktiken auf, etwa im Reenactment von historischen und mythischen Vergangenheiten, in Verkleidungen, Inszenierungen und wörtlich verstandenen ›Verkörperungen‹. Dabei sind es nicht nur die vermeintlich originären Praktiken der Dokumentierten, die ihre Spuren indexikalisch am Dokument hinterlassen, sondern auch die operative Handhabung von Dokumenten in weiteren Situationen und Praxiszusammenhängen: Das Dokumentieren und der Umgang mit Dokumenten (sie zu archivieren, zu analysieren, zu edieren, zu publizieren) unterliegen Veränderungen auch durch Praktiken in der Zeit. Diese spezifische Sicht auf Dokumente, als handhabbare, spurbehaftete und transformierte Medien des Wissens, lässt sie – vielleicht kontraintuitiv zum gewohnten Begriff – als fluide, dynamische und als soziale, kulturelle, mitunter als politisch und rechtlich verhandelte und zu verhandelnde ›Praxis-Gegenstände‹ erscheinen.

Für die am Wert der Vergangenheit interessierte Forschung bedeutet dies, die Veränderbarkeit der dokumentarischen Erkenntnisfundamente ebenso anzuerkennen und zu reflektieren wie die Transformationen, die die eigenen Arbeiten an Dokumenten möglicherweise verursachen. Genauer betrachtet basiert der Evidenzcharakter des Dokumentarischen also auf textlichen oder auch praxeologischen Verfahrensweisen, Praktiken und Zuschreibungen, die sich wandeln, möglicherweise auch in Konkurrenz zueinander stehen. Schon allein die Tatsache, dass das Vorzeigen und Ausstellen von Dokumenten und Dokumentensammlungen selbst ›Zeit‹ und Geschichtlichkeit enthält, verweist auf die hier besonders interessierende Historizität der dokumentarischen Evidenz.

 

Abb. oben: © Dirk Naguschewski

Programm

Mittwoch, 3.7.2024    

18.00
Auftaktvortrag


Donnerstag, 4.7.2024

10.00

  • Nicolas Berg (DI), Barbara Picht (ZfL): Begrüßung und Einführung

1. Sektion
Moderation: Elisabeth Gallas (DI)

  • 10.15
    Martin Sabrow (ZZF): Biographische Evidenzproduktion in der Ich-Erzählung des 20. Jahrhunderts
  • 11.00
    Julia Steinmetz (HU Berlin): Wissenschaftsgeschichte dokumentieren

2. Sektion
Moderation: Nicolas Berg (DI)

  • 12.00 Tandemvortrag
    • Stefan Scholl (IDS): Dokumentarische Evidenz(en) von Hitler-Reden: Überlegungen aus klang-  und sprachgeschichtlicher Perspektive I
    • Muriel Favre (Goethe-Universität Frankfurt a.M.): Dokumentarische Evidenz(en) von Hitler-Reden: Überlegungen aus klang-  und sprachgeschichtlicher Perspektive II

3. Sektion
Moderation: Moritz Neuffer (ZfL)

  • 14.00
    Elisabeth Gallas (DI): Zeugnisse der Anklage und Erinnerung: Jüdische Schwarzbücher nach dem Holocaust
  • 14.45 Tandemvortrag
    • Karin Reichenbach (GWZO): Experiencing the Past in Historical Reenactment. Bodily and Sensory Approaches to History and their Ambivalent Relation to Historical Documents
    • Svitlana Telukha (GWZO): Documentation During War Times: Challenges, Ethics, Results

16.00
Podiumsdiskussion
Moderation: Barbara Picht (ZfL)

  • Gewalt und Dokument
    mit Dominika Herbst (Universität Potsdam), Katharina Menschick (Ruhr-Universität Bochum), Matthias Schwartz (ZfL) und Britt Marie Schuster (Universität Paderborn)

Freitag, 5.7.2024

5. Sektion
Moderation: Mark Dang-Anh (IDS)

  • 10.00 Tandemvortrag
    • Regine Strätling (Université de Montréal): Zwischen Klassifikation und Affekt: ›Dokumentarismus‹ in der französischen Zeitschrift Documents (1929–1931)
    • Moritz Neuffer (ZfL): »Die Wahrheit spricht für sich – […] Uns scheint dieser Satz zu schön um wahr zu sein«. Dokumentarische Positionen in Kulturzeitschriften, 1945–1968
  • 11.00
    Nicolas Berg (DI): Eine andere kritische Theorie der 1960er Jahre – Walter Boehlichs dokumentarische Interventionen mit der »sammlung insel«

6. Sektion
Moderation: Stefan Scholl (IDS)

  • 12.00
    Doris Stolberg (IDS): Tok Pisin: Dokumentation einer Sprache im kolonialen und postkolonialen Kontext (unter Einbezug des Archivs von Peter Mühlhäusler)
  • 12.45 Tandemvortrag
    • Mark Dang-Anh (IDS): Zeichenhafte Medienpraktiken in, an und mit historischen Dokumenten
    • Johannes Paßmann (Ruhr-Universität Bochum): Praktikenrekonstruktion mit Daten aus Web-Archiven