Durchblicke. Literatur im Schauraum der Medizin
Programm
Überwachungskameras auf öffentlichen Plätzen, „Nacktscanner“ in
Flughäfen oder genetische Screenings in Arztpraxen lassen den Eindruck
entstehen, dass unsere Gesellschaft auf dem Weg zum gläsernen Patienten
und durchschaubaren Konsumenten ist. Dabei stehen der Verheißung von
öffentlicher Sicherheit und individuellem Wohlergehen Ängste vor
medialer Überwachung, politischer Kontrolle und ‚diktatorischer’
Gesundheitsfürsorge gegenüber. Gerade die technischen Möglichkeiten,
unblutige Einblicke in das verborgene Innere des menschlichen Körpers zu
erlangen, haben nicht nur zu neuen Diagnose- und Therapieverfahren
geführt, sondern auch zu einer Vielzahl von literarischen und
künstlerischen Werken, die sich emphatisch oder kritisch mit
Röntgenfotografie, Ultraschall, Endoskopie und Computertomografie
auseinander setzen.
Die Lesung mit Podiumsdiskussion und
Publikumsgespräch initiiert anlässlich der Ausstellung „Zwillingsbilder“
eine experimentelle Begegnung zwischen Medientechnik, Medizin und
Literatur. Die Gedichte, Essays und Erzählungen von Ulrike Draesner,
Marion Poschmann und David Wagner hinterfragen das Begehren nach
visueller Enthüllung, das darauf vertraut, das ‚wahre Wesen’ des
Menschen im Inneren seines Körpers aufspüren zu können. Zugleich zehren
sie von der jahrhundertealten Faszination jener Schattengestalten,
Doppelgänger und Zwillingsbilder, deren mythische und literarische
Traditionen nun von der Medizintechnik aktualisiert werden. Im Spiel mit
(Un-) Sichtbarkeit, Unschärfe, der Auflösung vertrauter
Wahrnehmungsmuster und der Schaffung neuer Einsichten reflektieren sie
die Vielschichtigkeit des Sehens, ja stellen sein Erkenntnispotential in
Frage.