Mythologies – Mythen des Alltags
Gut fünfzig Jahre nach ihrer Publikation und über vierzig Jahre nach einer Teilveröffentlichung in deutscher Sprache ist nun eine erste vollständige und neu übersetzte Ausgabe der Mythologies (1957) des Kulturkritikers und Semiologen Roland Barthes erschienen. Die virtuos geschriebenen Porträts widmen sich medial präsentierten Alltagsphänomenen in der Kulturindustrie: dem Zauber im »Gesicht der Garbo«, der Ikonographie des Abbé Pierre, der »Afrikanischen Grammatik« zur Rechtfertigung des Algerienkriegs, der Darstellung so genannter Volkscharaktere in Reiseführern, der Apotheose des legendären Citroën DS, der religiösen Aufladung der Nahrungsmittel »Beefsteak und Pommes Frites«, dem Catchen als Abkömmling des antiken Dramas u.v.m.
Barthes, der in den Mythen des Alltags als einer der ersten Wissenschaftler die strukturalistische Zeichenlehre Ferdinand de Saussures auf massenkulturelle Phänomene anwendete und dabei eine Theorie des modernen Mythos als semiologisches System entwickelte, hat die modernen Kulturwissenschaften maßgeblich mitbegründet. Er selbst verstand seine Texte vor allem als politische Interventionen und als intellektuelle »Demontagen« kleinbürgerlicher Ideologeme, deren besonderes Kennzeichen die unablässige Vertauschung von Natur und Geschichte sei. Auf dem Workshop werden Kultur-, Medien- und Literaturwissenschaftler gemeinsam die Mythen des Alltags einer Relektüre unterziehen und daraufhin befragen, inwiefern sie heute noch für die kulturwissenschaftliche Analyse relevant sind bzw. ob ihr zeichentheoretisches und zugleich auch ideologiekritisches Gerüst heute noch anschlussfähig ist. Dabei werden sich Vorträge – etwa zum Ort der Mythen des Alltags im Gesamtwerk Barthes' oder zur Bedeutung des theoretischen Supplements »Der Mythos heute« – mit einzelnen Lektüren der »Mythologien« abwechseln.
Programm
Donnerstag, 19.01.2012
- 14.00
Mona Körte/Anne-Kathrin Reulecke (ZfL): Begrüßung und Einführung
Moderation: Benjamin Bühler (ZfL)
- 14.30
Horst Brühmann (Frankfurt a.M.): »Als Diskussionsgrundlage für Großstadtbüchereien empfohlen«. Zur Übersetzung und Rezeption der Mythen des Alltags in Deutschland (Vortrag) - 15.15
Peter Geimer (Berlin): Das Problem des wirklich guten Weins. Über das Jenseits der Ideologiekritik (Vortrag)
Moderation: Falko Schmieder (ZfL)
- 16.30
Anne-Kathrin Reulecke (ZfL): Dichtermythen - Mythen der Dichtung. Zu den Abschnitten »Minou Drouet und die Literatur«, »Nautilus«, »Die Tour de France als Epos« (Lektüre) - 17.45
Ulrike Vedder (HU Berlin): Strafprozesse. Zu den Abschnitten »Dominici oder der Triumph der Literatur« und »Der Prozess gegen Dupriez« (Lektüre)
Freitag, 20.01.2012
Moderation: Birgit Griesecke (ZfL)
- 10.30
Ottmar Ette (Potsdam): Mytho-Logiken des Roland Barthes (Vortrag) - 11.45
Yoko Tawada (Berlin): Alles Ritual im freien Westen. Nationalisierung der Erotik und der Stil als Alibi. Zu »Striptease« und »Zwei Mythen des Jungen Theaters« (Lektüre) - 12.15
Mona Körte (ZfL): Ordnungen von Gesicht und Haar. Zu »Die Römer im Film«, »Ikonographie des Abbé Pierre« und »Das Gesicht der Garbo« (Lektüre)
Moderation: Anne-Kathrin Reulecke/Mona Körte (ZfL)
- 14.15
Birgit Erdle (Frankfurt a.M./London): Schein und Vorschein. Barthes und Kracauer zu Family of Man (Vortrag) - 15.00
Dirk Naguschewski (ZfL): Die Politik im Diskurs. Roland Barthes und die ›Afrikanische Grammatik‹ (Lektüre) - 15.30
Kikuko Kashiwagi (Osaka)/Michael Wetzel (Bonn): »Défendre son beefsteak«. Nahrungsrituale als Mythen des französischen Alltags (Vortrag)