Rückwärtserzählen
In Rückwärtserzählungen wird die zeitliche Abfolge von Geschehnissen verkehrt. Solche Inversionen, die die Zeitlichkeit, aber auch die Kausalität betreffen können, kommen in Literatur, Kunst und Wissenschaft immer wieder zum Einsatz. In Geschichtsphilosophie und Wissenschaftsgeschichte bildet retrogrades Erzählen eine kritische Alternative zu zielfixierten Verlaufsgeschichten, die im Ruf stehen, Diskontinuierliches einzuebnen. In Literatur und Film wird es dort produktiv, wo der Chronologie oder mehr noch der Korrelation bestimmter Ereignisse misstraut wird und Raum für andere Lesarten der Zusammenhänge entstehen soll. Exemplarisch hierfür steht Ilse Aichingers Spiegelgeschichte (1946): Auf dem erzählten Weg vom Tod zurück ins Leben schieben sich nicht nur die Wirkungen vor die Ursachen, es werden auch die daraus erfolgenden Konsequenzen miterzählt. Rückwärtserzählungen gehorchen also keineswegs der bloßen Zeitumkehr, sondern aktivieren meist beide Zeitrichtungen. Deshalb ist ihre Dynamik als ein »Rückwärtsvorgang« zu beschreiben, der sowohl desorientierende als auch reorientierende Funktion hat.
Der Workshop möchte die poetologischen und epistemologischen Dimensionen des Rückwärtserzählens näher bestimmen und das Besondere der Inversion an Einzelfällen aus Literatur und Wissenschaft, aber auch aus Film und Musik untersuchen: Ist es der narrative Prozess, der rückwärtsläuft, ist es die Ordnung, in der die erzählten Ereignisse präsentiert werden, oder sind es die Ereignisse der erzählten Geschichte selbst? Wie verhält sich retrogrades Erzählen zu teleologischen Erzählmustern, zu Ursprungs- oder Anfangserzählungen? Und ist es überhaupt ein wirkungsvoller Einspruch gegen die Chronologie?
Idee/Konzept/Organisation: Mona Körte
Programm
Donnerstag, 03.05.2018
14.00–14.15
Mona Körte (ZfL): Begrüßung und Einführung
Aitiologie und Erzählrichtung
14.15–16.15
Moderation: Claude Haas
- Susanne Gödde (FU Berlin): Hysteron proteron: Zur narrativen Logik antiker Gründungserzählungen
- Claas Morgenroth (TU Dortmund): Invertierte Teleologie – Rückwärts Erzählen in der Literatur und Kunst
16.45–18.45
Moderation: Justus Fetscher
- Ulrike Schneider (FU Berlin): Poesie vice versa. Überlegungen zum Palindrom
- Michael Niehaus (FernUniversität Hagen): Retroanalyse
Freitag, 04.05.2018
Point of Return
9.30–11.30
Moderation: Alexandra Heimes
- Stefan Willer (ZfL): »At the end where all works of art should begin«. Rückwärtskonstruktionen nach Edgar Allan Poe
- Sulgi Lie (FU Berlin): Erase and Rewind. Zur Komik der Rückwärtserzählung im Film
12.00–13.00
Moderation: Barbara Picht
- Herbert Kopp-Oberstebrink (ZfL): Anfangsgeschichten, vom Ende her erzählt. Über ein Muster philosophiegeschichtlichen Erzählens
Revisionen
14.30–16.30
Moderation: Tatjana Petzer
- Susanne Strätling (Universität Potsdam): Wegerzählen? Poetische Reversionen von Charms bis Arsenijević
- Jeffrey Grossman (University of Virginia, Charlottesville/USA): Martin Amis’s Nazi Doctor: Reverse Narrative, Double Consciousness, and the (Un-)Making of Memory in Time’s Arrow
Allelopoiese und Rekurrenz in der Wissenschaftsgeschichte
17.00–19.00
Moderation: Eva Geulen
- Georg Toepfer (ZfL): Der Rückwärtsgang im Erzählen von der Wirklichkeit in Naturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte
- Ernst Müller (ZfL): Ausgangspunkt Gegenwart. Historische Rekurrenz in der Wissenschafts- und Begriffsgeschichte
Samstag, 05.05.2018
Zeit als Modus
10.00–11.00
Moderation: Stefan Willer
- Justus Fetscher (Universität Mannheim): Zurück zur Enttäuschung. Retrograde Dramaturgien der Desillusionierung nach dem Muster von Harold Pinters Betrayal
Der ursprünglich angekündigte Vortrag von Alexandra Heimes muss leider ausfallen, der Vortrag von Justus Fetscher wurde deshalb vorverlegt.
11.30–12.30
- Charis Goer (Universität Utrecht/NL): Sound & noisiV – Reverse-Musikvideos
Abb. oben: E. Zinke/K. Arnold: Geräteturnen für Mädchen, Berlin 1980