"In des Todes kalten Armen kann das Leben erst erwarmen". Märtyrer in der Literatur
Program
Veranstaltung der Reihe zum Jahresthema des ZfL: Märtyrer. Schlüssel zum Verhältnis der Religionen und Kulturen
Märtyrer zählen zu den wichtigsten Protagonisten der Literaturgeschichte. Die Opfer (in) der Literatur sind Legion; ohne Tod, Schmerz und spektakuläre Szenen des Sterbens sind Drama und Dichtung nicht vorstellbar. Dabei geht es nur zum geringeren Teil um klassische Märtyrer, die (im Bekenntnis oder im Kampf) für ihre Konfession gestorben sind. Es geht um Elemente und Motive einer kulturellen Praxis, auf denen das Märtyrertum basiert und die weit über die Religionsgeschichte hinausgehen: um den Zusammenhang von Opfertod und Sinnstiftung, um den Kampf für die Gerechtigkeit oder ein anderes Ideal, um Widerstand und Tyrannis, um das Motiv des Liebestodes, um Leidenschaft, Ekstase und Schmerz-Lust, um Heroismus, Freiheit und Gewalt, um Unbedingheit und Vernichtung.
Da die meisten derjenigen, die – oft vor den Augen der Öffentlichkeit – eines spektakulären oder grausamen Todes gestorben sind, erst nachträglich zu Märtyrern werden, indem ihrem physischen Sterben eine metaphysische Bedeutung zugeschrieben wird oder ihr Tod zum Fanal oder Symbol einer Gemeinschaft wird, folgt die Herstellung von Märtyrern gleichsam literarischen Gesetzen. Denn der Streit um die Märtyrer ist immer ein Deutungskampf: Für die einen Heroen/ Opfer der Wahrheit und Vorbilder, sind sie für die anderen Wahnsinnige, Verrückte und Rasende.
Die Lesung präsentiert einen Gang durch die Literaturgeschichte entlang der Figuren von Märtyrern und verwandter Motive. In vier Kapiteln – Recht und Herrschaft, Kampf und Schlachtfeld, Liebe und Tod, Tod und Erhöhung –werden u.a. Texte gelesen von Sophokles, Titus Livius, William Shakespeare, Heinrich von Kleist, Heinrich Heine, Elias Canetti, Ingeborg Bachmann und Ivo Andrić sowie Auszüge aus "Mohammed und die Schlacht von Uhud" und der "Geistlichen Anleitung von 9/11".
Künstlerische Leitung/ Textauswahl: Christina Pareigis, Sylvie Rühl
Vortragende: Helga Lehner, Bernd Ludwig, Sylvie Rühl
Musik: Hannes Zerbe
Helga Lehner
Schauspielerin und Autorin, lebt und arbeitet in Berlin. Theaterengagements in Österreich, der Schweiz und Deutschland, zuletzt am Hansa-Theater und Teatr Kreatur Berlin. Mitwirkende in zahlreichen Film- und Fernsehspielen sowie -serien, langjährige Tätigkeit beim RIAS Berlin als Moderatorin und Autorin.
Bernd Ludwig
Schauspieler und Autor, lebt und arbeitet in Berlin. Theaterengagements in Bremen, Potsdam und Berlin, Theaterarbeiten u.a. mit Peter Stein, zuletzt am Teatr Kreatur Berlin. Zahlreiche Eigenproduktionen. Seit zwanzig Jahren Mitarbeit beim RIAS Berlin bzw. Deutschlandradio als Sprecher und Autor.
Christina Pareigis
Literaturwissenschaftlerin am ZfL, Bearbeiterin des Susan Taubes-Archivs. Forschungsschwerpunkte: Moderne jiddische Literatur, deutschsprachige Literatur jüdischer Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts, Literatur aus dem Shoah-Kontext.
Sylvie Rühl
Schauspielerin, lebt und arbeitet in Berlin. Freie Theaterarbeit und Lesungen in Jerusalem und Berlin, zuletzt am Teatr Kreatur Berlin. Mitbegründerin des Spielzimmertheaters und des Theaters Zettel.
Hannes Zerbe
Jazzmusiker, Orchesterleiter und Komponist, lebt und arbeitet in Berlin. Zerbe studierte Klavier und Komposition, letzteres bei Wolfram Heicking und Paul-Heinz Dittrich.
Eintritt: frei
Um Anmeldung wird gebeten unter: trajekte@zfl-berlin.org.
Programmkonzeption: Sabine Berthold, Sabine Flach, Dirk Naguschewski, Christina Pareigis, Martin Treml, Sigrid Weigel
Das ZfL dankt dem Museum für Kommunikation Berlin
Märtyrer – Schlüssel zum Verhältnis der Religionen und Kulturen
Allenthalben ist eine Renaissance der Religionen in der Politik und Kultur zu verzeichnen – auch in solchen modernen Gesellschaften, die sich noch vor kurzem als weitgehend säkular betrachtet haben. In diesem Zusammenhang stellt die Wiederkehr des Märtyrermodells eine besonders beunruhigende Komponente dar. Mit den Selbstmordattentätern, die sich als Märtyrer verstehen und auch von ihren Gemeinschaften als solche verehrt werden, ist eine Figur auf den Schauplatz der Geschichte zurückgekehrt, von der das säkularisierte Europa annahm, dass sie längst vergangenen Zeiten angehört. Bei aller Fremdheit der Bilder, die durch die Medien von den internationalen Kampfschauplätzen übermittelt werden, gibt es stets auch Wiedererkennungsmomente: aufgrund der vielen religiösen Symbole, in denen nicht selten Zeichen der christlichen Ikonographie auftauchen, und aufgrund der Chiffren aus Pop- und Massenkultur, derer sich die Propaganda der Selbstmordattentate und die Verehrung ihrer Akteure bedient. Durch diese Bilder wird deutlich, dass hier auch Momente aus der europäischen Tradition im Spiele sind. Sie erinnern an bekannte Mythen und Deutungen aus der Geschichte der kollektiven Verarbeitung von Toten aus Kriegen, Gewaltherrschaft und Katastrophen.
Die Beschäftigung mit der vielfältigen Tradition von Märtyrern in der Kulturgeschichte erhellt nicht nur religiöse Zusammenhänge politischer Gewalt, sondern auch die Verbindungen und die Differenzen zwischen den drei monotheistischen Religionen. Denn die Verehrung von Märtyrern spielt sowohl in christlichen und islamischen als auch in jüdischen Kulturen eine zentrale Rolle. Zugleich schärft der Blick auf die Kontinuität und den Wandel von Märtyrermotiven die Sensibilität für die vergessenen, gleichwohl aber fortwirkenden Prägungen auch der Moderne durch Muster, die der Verknüpfung von Opfer und Verehrung, von Passion und Pathos entstammen.
Die theologische Figur des Märtyrers (von griechisch martyr, 'Zeuge'), dessen Entstehung mit einer semantischen Umdeutung des Zeugen in den Blutzeugen einhergegangen ist, verbindet das Opfer des eigenen Lebens – sei es durch Selbsttötung oder Inkaufnahme des eigenen Todes – mit einem Bekenntnis: sei es zur Wahrheit oder Tugend, zum Glauben oder zu den Religionsgesetzen. Damit wird das physische Sterben zur Manifestation eines metaphysischen Sinns. Als nach einer Geschichte mythischer, antiker und judaischer Vorformen die Passion Christi zum zentralen Bezugspunkt einer emphatischen Märtyrerkultur geworden war, hat diese sich seither mehrheitlich in Formen und Variationen einer Imitation der Passion, der Nachahmung eines heiligen Martyriums, weiter entwickelt: als Genealogie, in der sich Vorbild und Nachahmung ablösen, – und als Kette der Leiden und Leidenschaften. Davon ausgehend hat sich in der Geschichte von Säkularisierung und Modernisierung die Bedeutung des 'Märtyrers' auch in nicht genuin religiöse Felder ausgeweitet: als Figur eines heroischen, geheiligten oder idealisierten Sterbens für einen höheren Wert, für die Interessen oder Ideale einer Gemeinschaft, Nation oder Idee. Die Gestalt des heiligen Kriegers oder Gotteskrieger, sei es in Gestalt des christlichen Kreuzritters, des islamischen Schlachtfeldmärtyrers oder des zeitgenössischen Selbstmordattentäters, hat sich dabei auf den Schauplätzen der Politik als besonders wirksam erwiesen. Dagegen ist die mystische Umformung des Martyriums in eine sublime Form gesteigerter sinnlicher Offenbarung, wie sie in der mittelalterlichen Mystik ausgebildet wurde, zu einer Vorlage ästhetischer Programme – auch und gerade – in der Moderne geworden.
Die Strukturen und Elemente der Märtyrertradition sind somit zum einen geeignet, die verborgenen religionsgeschichtlichen Grundlagen der Moderne sichtbar zu machen; zum anderen erhellen sie grundlegende Motive (nicht nur) der europäischen Kulturgeschichte. Das Deutungsmuster des Märtyrers kommt immer dann zum Einsatz, wenn es darum geht, radikale Umdeutungen vorzunehmen: Opfer in Helden zu verwandeln, Ohnmacht in Macht, Schmerz in Lust, Leiden in Leidenschaft, Askese in mystische Ekstase – und den (realen) Tod in ein (imaginäres) ewiges Leben, Insofern verkörpert der Märtyrer, einem Revenant gleich, die Formensprache der abendländischen Imaginations- und Bildgeschichte seit der Antike. (Sigrid Weigel)