Zeitgeist im Glossar? – Interdisziplinäre Zugänge und zeitdiagnostische Einordnung zum öffentlichen Sprachgebrauch nach der Jahrtausendwende
Sprache ist das Tor zur Welt (Felder 2009) – das gilt nicht nur für die frühkindliche Sozialisation, sondern generell für jedes menschliche Wesen, das sich die soziale Welt neben eigenen Primärerfahrungen vor allem über den kommunikativen Austausch mit Familienmitgliedern, Peergroups, Bildungsinstitutionen und Medienkonsum erschließt. In medienvermittelten Massendemokratien strukturiert der öffentliche Sprachgebrauch die soziale Wirklichkeit von Individuen und Gruppen, macht sie wechselseitig identifizierbar, prägt Wahrheitsannahmen und Lebensentwürfe, eröffnet Handlungsräume und markiert zugleich Sagbarkeitsgrenzen. Gerade in den gegenwärtigen Krisen – von der Wirtschafts- über die Covid-Pandemie- bis hin zu kriegsgeprägten Diskursen – wurde und wird dies auch für fachliche Laien (zuweilen leidvoll) deutlich und wiederholt thematisiert. Die wissenschaftliche Beobachtung, Analyse und Dokumentation öffentlichen bzw. gruppenbezogenen Sprachgebrauchs verfolgt dabei in vielen Fällen nicht allein ein sprachhistorisches oder sprachsystematisches Erkenntnisinteresse. Vielmehr eröffnet die datengestützte Erfassung, Beschreibung und Kommentierung ausgewählter Wörter und Phrasen den Zugang zu kollektiven Denkmustern, zu gruppen- und gesellschaftsspezifischen Weltanschauungen und Mentalitäten (Hermanns 1995). Weltweit bekannt geworden sind so zum Beispiel die Notizen zur Sprache der Nationalsozialisten von Viktor Klemperer (LTI 1947) oder das »Wörterbuch des Unmenschen« (1957) von Dolf Sternberger, Wilhelm Süskind und Gerhard Storz. Seit den 1970er Jahren hat sich unter diesem Blickwinkel in verschiedenen Disziplinen ein breites Forschungsfeld entwickelt, insbesondere in Sprach- und Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Diskursforschung, Soziologie und Politikwissenschaft. Die Ergebnisse der Einzelprojekte wurden und werden dabei regelmäßig in Form von Wörterbüchern oder in Form von Glossaren und Nachschlagewerken publiziert, die sich teilweise an die Fachcommunity wenden, in aller Regel aber auch oder sogar besonders – und dann meist in essayistischem Stil – die interessierte Öffentlichkeit adressieren. Regelmäßig finden diese Publikationen dann auch weitläufige Beachtung im Feuilleton von Presse und Rundfunk.
In der jüngeren Vergangenheit hat das Genre der analytischen und kommentierenden Wort- bzw. Begriffsverzeichnisse (Glossare) zu öffentlichem bzw. gruppenbezogenen Sprachgebrauch einen erheblichen Produktivitätszuwachs erfahren. Zahlreiche Neupublikationen mit fachlichem oder publizistischem Hintergrund, zudem in immer neuen Disziplinen und auch aus ungewohnten politischen Richtungen (wie das im neurechten Verlag Antaios erschienene Glossar von Kleine-Hartlage 2015) sind erschienen. Aus dieser Beobachtung heraus stellen sich die folgenden Fragen:
- Was motiviert die (zunehmende Anzahl der) Entstehung der gruppen- und gesellschaftsdiagnostischen Begriffsinventare in den verschiedenen Disziplinen und Domänen, auf welche gesellschaftliche Herausforderungen reagieren sie und versuchen Orientierung zu stiften?
- Wie werden die verschiedenen Inventare bei Fachpublikum, Verlagen und interessierter Öffentlichkeit aufgenommen?
- Welche methodologischen Prämissen, analytischen Verfahren und Zielsetzungen verfolgen die verschiedenen Inventarisierungen öffentlichen Sprachgebrauchs?
Diese Fragen sind nicht nur von fachlichem, interdisziplinärem Interesse, sie haben auch unmittelbare Relevanz für gegenwärtige gesellschaftliche Diskurse: halten die Sprach- und Begriffsanalysen, was sie versprechen? Wo und wie schaffen sie sinnstiftende Orientierungsangebote im semantischen Kampf um Deutungshoheit? Wo schaffen sie gar Sprachge- und verbote, ziehen Grenzen zwischen legitimen und illegitimen Diskurspraktiken – und wie kann/muss sich Wissenschaft dazu verhalten, um in Zeiten kriseninduzierter Polarisierung den demokratischen Debattenraum zu kultivieren (vgl. dazu Vogel/Deus (Hg.) 2019)?
Programm
Donnerstag, 22.1.2026
13.00
- Begrüßung und Organisatorisches
13.15
Motive, Zugänge, Rezeption ausgewählter Glossarprojekte I
- Ernst Müller, Barbara Picht, Falko Schmieder (ZfL), Stefan Scholl (IDS): Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Gegenwartsdiagnosen in den Artikeln zu ›Demokratie‹ und ›Politik‹
- Mark Dang-Anh (IDS), Ingo Warnke (Universität Bremen): Diskursgeschichtliches Portal zum ausschließenden Sprachgebrauch
- Margret Jäger (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung): Glossar zur kritischen Diskursanalyse
15.45
Motive, Zugänge, Rezeption ausgewählter Glossarprojekte II
- Ulrich Bröckling (Universität Freiburg), Susanne Krasmann (Universität Hamburg): Glossar der Gegenwart
- Friedemann Vogel (Universität Siegen): Glossar des Diskursmonitors
17.15
- Zwischenfazit mit Blick auf die Leitfragen
Freitag, 23.1.2026
9.00
- Helmut Kellershohn (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung): Glossare als strategische Praktik der Neuen Rechten
10.45
- Clemens Knobloch (Universität Siegen): Der Zeitgeist des Glossars – Überlegungen zur Popularität eines Genres
12.30
- Fazit und Ausblick: Glossar der Glossare?