
Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland
Das 20. Jahrhundert ist ein begriffsgeschichtlich noch zu vermessendes Terrain. In einem Verbundprojekt, das im Rahmen der Förderlinie Leibniz-Kooperative Exzellenz unterstützt wird, soll unter der Federführung des ZfL in enger Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut für deutsche Sprache (IDS) in Mannheim und dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) ein Lexikon der Grundbegriffe dieses Jahrhunderts entstehen. Unter Einbezug einer Vielzahl von weiteren historisch arbeitenden Wissenschaftlern der geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Fächer soll die politisch-soziale und kulturelle Semantik in Deutschland erschlossen werden. Das Projekt versteht sich als ein interdisziplinäres, wissens- und sozialgeschichtlich ausgerichtetes Forschungsunternehmen, das keinesfalls nur gesichertes Wissen festschreiben, sondern experimentell der Grundlagenforschung der Geistes-, Kultur-, Sozial- und historischen Wissenschaften dienen soll.
Als Beginn des Untersuchungszeitraums bestimmen wir die von Neuzeit-, aber auch Kulturhistorikern akzentuierte problemgeschichtliche Schwellensituation ›um 1900‹, die oft auch als Beginn der Hochmoderne oder der ästhetischen Moderne angesehen wird. Das Projekt knüpft kritisch an die mit dem Namen Reinhart Koselleck verbundenen Geschichtlichen Grundbegriffe an. Anders als diese gehen wir nicht von einer (zweiten) Sattelzeit aus. Vielmehr stellt sich uns das 20. Jahrhundert als ein vielfältig frakturiertes und widersprüchliches, pluritemporales Jahrhundert dar, dessen Semantik durch Ungleichzeitigkeiten, beschleunigten Verschleiß, begriffliche Innovationen und Bezeichnungsrevolutionen, aber auch durch erstaunliche Kontinuitäten, Wiederholungsstrukturen und zyklische Verläufe geprägt ist. Die Verknüpfung von Geschichtsphilosophie und (Sozial-)Strukturgeschichte als epistemischer Grundrahmen der Geschichtlichen Grundbegriffe (mit der latenten Gefahr einer begriffsrealistischen Ontologie) wird aufgelöst zugunsten des Interesses an Austauschprozessen zwischen wissenschaftlicher, literarästhetischer, politischer und alltäglicher Sprache, also an der ganzen Vielfalt der Formen und Verfahren der Generierung und Zirkulation von Bedeutungen.
Das Lexikon präsentiert nicht nur die politisch-soziale, sondern auch die kulturelle Semantik. Damit ist sowohl eine Ausweitung des Gegenstandsfelds verbunden, als auch eine Veränderung der Heuristik und Methodik der Untersuchungen sowie ein erweitertes Verständnis von ›Grundbegriff‹. Eine These ist, dass neue Grundbegriffe im 20. Jahrhundert wesentlich durch die Wissenschaften geprägt werden. Mit der Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Philosophie als Universaldiskurs ablösen, und mit der Entstehung pluraler, auf neue Medien basierender und auf soziale Massen zielender Öffentlichkeiten können dabei die Formen und Zusammenhänge der Bedeutungsproduktion nur mehr in einer interdisziplinären und wissensgeschichtlichen Perspektive erschlossen werden. Zu den neuen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen, die zur Quelle der politischen Semantik werden, gehören insbesondere die Soziologie, Kulturwissenschaften, Religionswissenschaften, Ethnologie, ebenso wichtige Bereiche der Lebenswissenschaften wie Genetik, Experimentelle Psychologie, Psychoanalyse und schließlich die angewandten Arbeitswissenschaften.
Zur Veränderung des Gegenstandsfelds gehört auch die Untersuchung neuer Begriffstypen. Dazu gehören Prozesskategorien mit dem Suffix -isierung, die überhaupt erst im 20. Jahrhundert als neue Form von Grundbegriffen auftauchen; darüber hinaus auch Begriffe ›mittlerer Reichweite‹, die nicht das ganze Jahrhundert durchlaufen, sondern kurzfristigere Konjunkturverläufe aufweisen. Sie verweisen auf Veränderungen der inneren Historizität bzw. historischen Tiefendimensionen von Begriffen, denen ein besonderes Interesse des Lexikons gilt.
Der Erweiterung des Gegenstandsfelds korrespondiert eine Veränderung der Methodik. Eine begriffsgeschichtliche Erschließung der Semantiken des politisch-sozialen Diskurses in Deutschland in seiner ganzen historischen Tragweite ist heutzutage überhaupt erst möglich aufgrund der digitalen Erfassung grundlegender Quellenkorpora. Erst jetzt besteht die Möglichkeit, mithilfe digitaler Methodik riesige Textkonvolute quantitativ zu erfassen und in Hinsicht auf die Semantiken qualitativ auszuwerten. Das Projekt betritt auch diesbezüglich Neuland, da es in drei verschiedenen Disziplinen (Literatur- und Kulturwissenschaft, Linguistik, Geschichtswissenschaft) an drei Leibniz-Instituten (ZfL, IDS und ZZF) mitentwickelte und erprobte digitale Verfahren erstmals zusammenbringt und anhand eines gemeinsamen Gegenstands in interdisziplinärer Zusammenarbeit weiterentwickelt.
Neben den Möglichkeiten, die die Digital Humanities gerade für die Analyse technisch-medial vermittelter massendemokratischer Gesellschaften bieten, erscheinen zur Untersuchung der Semantiken des 20. Jahrhunderts viele weitere der in den vergangenen Jahren neu oder weiterentwickelten Methoden vielversprechend, die je nach Gegenstand kombiniert zur Anwendung kommen können. Dazu gehören:
- die Verbindungen zur Wissenschafts- und Wissensgeschichte,
- die Reflexion semantischer Übertragungen zwischen Sprachen verschiedener Funktionssysteme sowie der Alltagssprache,
- verfeinerte Methoden der Analyse durch die Sprachpragmatik,
- die Öffnung zu angrenzenden Methoden wie Diskursanalyse oder Metaphorologie,
- die Hinwendung zur kulturellen Semantik, die auch Bedeutungen jenseits ihrer sprachlichen Fixierungen einbezieht.
Insgesamt knüpfen wir an das Projekt die Erwartung, dass die Begriffsgeschichte durch ihr Interesse an der Medialität der Sprache und den Eigendynamiken sprachlicher Prozesse einen spezifischen Blick auf dieses Jahrhundert werfen kann und so möglicherweise auch zu anderen Ergebnissen kommt als eine stark synthetische oder an den politischen Zäsuren orientierte (Sozial-)Geschichtsschreibung.
Im Rahmen des Gesamtprojekts nehmen die drei kooperierenden Institute gemäß ihrer spezifischen Expertisen jeweils einen bestimmten Typus von Grundbegriff in den Blick.
Abb. oben: Naomi Booth. Quelle: Pixabay.
Laufzeit: seit 2020
Siehe auch
- Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte (FIB) (E-Journal, Open Access, seit 2012)
- Beiträge zur Begriffsgeschichte (im ZfL BLOG)
- Theorie und Konzept einer interdisziplinären Begriffsgeschichte (Ernst Müller, Barbara Picht, Falko Schmieder, Projekt 2008–2019)
Teilprojekte
Politisch-soziale Grundbegriffe wissenschaftlicher Provenienz
Bearbeitung: Barbara Picht, Falko Schmieder
Wissenschaftliche Hilfskraft: Christian Hoekema (ERASMUS-Stipendiat)
In dem am ZfL angesiedelten Teilprojekt werden vor allem Begriffe untersucht, die dem wissenschaftlichen Diskurs entstammen und zwischen den Disziplinen und in den politisch-sozialen sowie den Alltagsdiskurs wandern. Hierzu zählen Begriffe wie ›Diversität‹, ›Energie‹, ›Evolution‹, ›Funktion‹, ›Gen‹, ›Generation‹, ›Geschlecht‹, ›Information‹, ›Kommunikation‹, ›Medien‹, ›Nachhaltigkeit‹, ›Natur‹, ›Netz‹, ›Ökologie‹, ›Prävention‹, ›Prognose‹, ›Rasse‹, ›Regulation‹, ›Struktur‹, ›Theorie‹, ›Trauma‹, ›Umwelt‹. Dieser Begriffstypus ist für die politisch-soziale Sprache des 20. Jahrhunderts spezifisch, die sich durch ihn von vorangegangenen Jahrhunderten unterscheidet. An ihm lässt sich die Tendenz einer abnehmenden Beständigkeit bzw. schnelleren Verfallszeit von Begriffen ablesen, die mit einer Verflüssigung von Bedeutungen einhergeht. Diese ergibt sich vor allem daraus, dass die Begriffe bei ihren vielfältigen Wanderungen zwischen verschiedenen sozialen Sphären ihre Konkretion verlieren und als beliebig besetzbare Leerformeln oder Worthülsen fungieren können. Eine Frage ist, ob für diesen Typ von Grundbegriffen die von Koselleck herausgestellte Spannung von Erfahrung und Erwartung noch zutrifft und welche neuen Formen sie möglicherweise annimmt. Im Vergleich mit Kosellecks Geschichtlichen Grundbegriffen dokumentiert dieser Begriffstyp auch eine Verschiebung prägender Semantiken von der geschichts- und sozialphilosophischen auf die wissenschaftspolitische Ebene, die unter den Stichworten einer Verwissenschaftlichung des Sozialen oder einer Politisierung der Wissenschaften gefasst wurde.
Das Projekt kann an langjährige ZfL-Erfahrungen einer interdisziplinären Wissens- und Sozialgeschichte anschließen. Um die zwischen den Wissenskulturen und Disziplinen mit großer Streuweite wandernden Termini angemessen erfassen zu können, bedarf es über diese hinaus entsprechender digitaler Tools der Begriffsgeschichtsforschung, die in der Lage sind, Cluster oder Domänen unterschiedlicher disziplinärer Verwendungen synchron und diachron zu analysieren. Auch hierzu gibt es vielfache Vorarbeiten, auf denen aufgebaut werden kann.
Politisch-soziale Grundbegriffe großer Reichweite und Dauer
Bearbeitung: Stefan Scholl
Das IDS-Projekt nimmt eine Auswahl politischer Grundbegriffe in den Blick. Es fokussiert dabei politisch relevante Teilkorpora, wie z.B. den publizistischen Diskurs der Nachkriegszeit, die Parlamentsprotokolle des 20. Jahrhunderts oder politische Reden während des Nationalsozialismus. Im Zentrum steht dabei die korpusbasierte Analyse begriffskonstituierenden Sprachgebrauchs und dessen methodische Kontextualisierung.
Politisch-soziale Zeit- und Prozessbegriffe
Bearbeitung: Simon Specht
Das ZZF-Projekt untersucht die Veränderung von Begriffen, die Zeitlichkeit und historischen Wandel zum Ausdruck bringen. Im Zentrum stehen dabei Begriffe wie ›Fortschritt‹, ›Krise‹, ›Entwicklung/Evolution‹, ›Modernisierung‹, ›Zukunft‹ oder ›Utopie‹, die politisch umstritten waren und deren gesellschaftliche Diskussion immer wieder zur Bestimmung des eigenen Ortes in der Geschichte diente.
Publikationen
FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE (FIB)
DOI 10.13151/fib.2022.01
Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts
Themenheft des Archivs für Begriffsgeschichte
FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE (FIB)
DOI 10.13151/fib.2021.01
Begriffsgeschichte
zur Einführung
FORUM INTERDISZIPLINÄRE BEGRIFFSGESCHICHTE (FIB)
Ernst Müller
- El concepto »espíritu del pueblo« y la historicidad del derecho. Savigny y Hegel, in: Manuel Ángel Bermejo Castrillo (Hg.): Temporalidades inter/disciplinares (Derecho, Filosofía, Política). Madrid: Dykinson 2021, 143–160
- ›Kristallisation‹ und ›Verflüssigung‹ als Metaphern der Geschichtstheorie, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 10.1 (2021), hg. von Ernst Müller und Falko Schmieder, 38–45
- Wende, in: Faltblatt zum ZfL Jahresthema 2020/21: EPOCHENWENDEN sowie auf dem ZfL Blog, 16.11.2020
Barbara Picht
- Teorías temporales de la modernidad comparadas: Braudel, Koselleck, Bauman, in: Manuel Ángel Bermejo Castrillo (Hg.): Temporalidades inter/disciplinares (Derecho, Filosofía, Política). Madrid: Dykinson 2021, 191–203
- Schiefrunde Perlen. Zum Deutungsanspruch metaphorischer Epochennamen, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 10.1 (2021), hg. von Ernst Müller und Falko Schmieder, 6–12
Falko Schmieder
- Sobre la política de la asimultaneidad en Ernst Bloch, Walter Benjamin y Theodor W. Adorno, in: Manuel Ángel Bermejo Castrillo (Hg.): Temporalidades inter/disciplinares (Derecho, Filosofía, Política). Madrid: Dykinson 2021, 229–246
- Geschichtsmetaphern und ihre Geschichte. Eine Auseinandersetzung mit Reinhart Koselleck, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 10.1 (2021), hg. von Ernst Müller und Falko Schmieder, 25–37
Das Projekt knüpft an die langjährigen Forschungen zur Theorie und Praxis interdisziplinärer Begriffsgeschichte an, aus denen unter anderem diese Publikationen hervorgegangen sind:
Ernst Müller, Falko Schmieder
- Begriffsgeschichte zur Einführung. Hamburg: Junius 2020
- Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. Berlin: Suhrkamp Verlag 2016, 2. Auflage 2019
- Hg.: Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte. Berlin, New York: de Gruyter Verlag 2008
Veranstaltungen
Falko Schmieder, Birgit Ziener: Walter Benjamins Thesen über den Begriff der Geschichte
Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, Kopenhagener Str. 9, 10437 Berlin
Estetica e filosofia della storia | Estética y filosofía de la historia | Ästhetik und Geschichtsphilosophie
Università degli Studi del Molise, Campobasso
Auftaktveranstaltung des Projekts »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen«
Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL), Schützenstraße 18, 10117 Berlin, 3. Etage, Trajekte-Tagungsraum / Zoom
Doris Liebscher, Falko Schmieder: »Rasse« im Recht gegen Rassismus?
Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin Kopenhagener Str. 9 10437 Berlin
Epochenschwellen und Epochenzäsuren
ZfL, Schützenstr. 18, 10117 Berlin, Aufgang B, 3. Etage, Seminarraum
Falko Schmieder: Odo Marquards Kritik der Geschichtsphilosophie und sein Gegenprogramm der Kompensation
Universitat de València
Ernst Müller: Der Begriff »Entzweiung« bei Joachim Ritter
Universitat de València
Barbara Picht: Der Beitrag der Ritter-Schule zum Historischen Wörterbuch der Philosophie
Universitat de València
Die »Vorträge der Bibliothek Warburg«. Das intellektuelle Netzwerk der KBW, Teil II
Warburg-Haus, Heilwigstraße 116, 20249 Hamburg
Falko Schmieder: Positivismusstreit
Universidad de Salamanca
Ernst Müller: Fakultäten/Universitätenstreit
Universidad de Salamanca
Barbara Picht: Historismusstreit
Universidad de Salamanca
Henning Trüper: Rescuing the dead from oblivion: humanitarian morality and historical discourse
Universidad Carlos III de Madrid, Campus de Getafe, Edificio Ortega y Gasset
Ernst Müller: Die Entdeckung des Gefühlswerts in der Begriffsgeschichte
Universidad Carlos III de Madrid, Campus de Getafe, Edificio Ortega y Gasset
Falko Schmieder: Der Überlebensbegriff als Instrument der angstpolitischen Kolonialisierung des Alltagslebens im Atomkriegs- und Ökologiediskurs
Universidad Carlos III de Madrid, Campus de Getafe, Edificio Ortega y Gasset
Barbara Picht: Angst. Wie schreibt man ihre Geschichte?
Universidad Carlos III de Madrid, Campus de Getafe, Edificio Ortega y Gasset
Barbara Picht: »Das 20. Jahrhundert wechselt sein Aussehen je nach Blickwinkel«. West- und östliches Europa aus der Perspektive des polnischen Schriftstellers Czesław Miłosz
Helle Panke e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, Kopenhagener Str. 9, 10437 Berlin
Aufgaben und Methoden der Begriffsforschung: Die Beispiele Staat und Politik
Freie Universität Berlin, DFG KFG 2615 - Rethinking Oriental Despotism, Fabeckstr. 15, 14195 Berlin