Zentrum für Literaturforschung (Hg.)
[Vergriffen!]

Heft 3

Trajekte 3
Berlin 2001, 40 Seiten
  • Jahrestagung
    Figuren des Europäischen.
    Forschungsperspektiven für eine Kulturgeschichte Europas (Sigrid Weigel)
  • Aus dem Archiv
    Genetischer Code zwischen 'Information' und 'geistigem Konzept'.
  • Aus dem Nachlaß des Molekularbiologen Gerhard Schramm (Christina Brandt)
  • Bildessay
    Hamlet\Maschine (Bernhard Dotzler)
  • Wissenskünste
    WissensKünste (Sigrid Weigel)
  • LifeSciences - Kunst - Medien (Sabine Flach)
  • Portraits der Künstler und Vortragenden (Sandra Mühlenberend)
  • Korrespondenzen
    In the Realm of Posthuman Speculation (Stelarc/Sabine Flach)
  • Positions of Likeness (Hillel Schwartz)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

Sigrid Weigel

Die gebräuchlichsten Metaphern einer Zeit sind stets jenen Techniken oder Forschungszweigen entlehnt, die gerade hoch im Kurs stehen. Zu den Favoriten zählen gegenwärtig u.a. das genetische Programm und der Klon, das Interface und die Schnittstelle. Verlieren solche Konzepte in den öffentlichen Debatten häufig Anschauung und präzise Bedeutung, so geht es der Literaturforschung u.a. um ihre Rückgewinnung und um die Auslotung der kulturellen und epistemologischen Implikationen der betreffenden Bilder und Begriffe: durch die Analyse von Konstellationen, in denen diese Metaphern konkrete Gestalt annehmen, durch Untersuchungen zu ihrer Genese in den materiellen und symbolischen Praktiken der Wissensproduktion und durch die Rekonstruktion ihrer diskursiven Voraussetzungen und imaginären Traditionen. Betritt die Literaturforschung – zumindest in Deutschland – damit ein neues Arbeitsgebiet, so weiß sie sich mit den Künsten im Bunde, die sich mit ihren ästhetischen Kommentaren und experimentellen Erkundungen in die Entwicklung des ‚wissenschaftlichen und technisch-medialen Fortschritts‘ einschalten.

Auf der Jahrestagung, mit der das ZfL im letzten Herbst seinen neuen Forschungsschwerpunkt Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte etabliert hat, ging es zunächst um den möglichen, spezifischen Beitrag literaturwissenschaftlicher Erkenntniswege für eine kulturgeschichtlich orientierte Wissen(schaft)sforschung. In der hier vorliegenden dritten Nummer des Newsletter werden nun einige exemplarische Vorhaben aus Wissenschaft und Kunst vorgestellt, die an ganz konkreten Schnittstellen von zentralen bedeutungstheoretischen und technisch-naturwissenschaftlichen Paradigmen angesiedelt sind.

So liefern die Texte, die im ARCHIV aus dem Nachlaß des Molekularbiologen Gerhard Schramm vorgestellt werden, einen Einblick in die komplexe Begriffsgeschichte der ‚genetischen Information‘. Dieser zeigt, daß zeitgleich zu den literaturtheoretischen und philosophischen Kontroversen um die ‚Schrift‘ und um den Geistbegriff der Geisteswissenschaften, wie sie etwa durch Jacques Derridas Grammatologie (1967) markiert werden, in den 60er Jahren in den Biowissenschaften eine vergleichbare Auseinandersetzung über die Bedeutung des ‚genetischen Codes‘, verstanden als Information oder geistiges Konzept, stattgefunden hat. Die Herausforderung und Anregung, das Verhältnis zwischen Idee und Materie, zwischen Zeichen und Spur zu überdenken, war für Kultur- und Naturwissenschaften nicht zuletzt von der Kybernetik und ihrem quantitativen, radikal nicht-semantischen Informationsbegriff ausgegangen. Während die Folgen, die Kybernetik und Elektronik in digitaler Kommunikation, Medien und Cyberspace-Entertainment gezeitigt haben, heute polemisch als Form von Interpassivität (Robert Pfaller) beschrieben werden, arbeiten Künstler an den kreativen Möglichkeiten interaktiver Installationen. Daß dabei die Literatur – als traditionelles Genre vielfältigen Probehandelns – wieder ins Spiel kommen kann, demonstriert die Installation Ultima Ratio von D. A. Plewe, die im BILDESSAY vorgestellt wird. Zwar sind die hochgesteckten Erwartungen an ein neues Genre der ‚Netzliteratur‘ bislang ernüchtert worden, doch scheinen die Korrespondenzen zwischen digitaler Logik und Literarizität noch nicht ausgeschöpft, wie das Experiment mit den Figuren von Zweifel und Entscheidung zeigt.

 

Im Zentrum des vorliegenden Heftes steht aber der neue Veranstaltungstyp der WISSENSKÜNSTE, mit dem der angestammte Bereich eines Forschungsinstitut überschritten wird. Das Vorhaben ist motiviert durch die Einsicht, daß angesichts der Diskrepanz zwischen der rasanten technologisch-wissenschaftlichen Entwicklung und deren nachhinkender kulturtheoretischer Deutung und Beurteilung nichts dringender gefordert ist, als Formen für einen offensiven und produktiven Austausch zwischen Künstlern und Wissenschaftlern, zwischen ästhetisch-experimentellem Vermögen und theoretisch-analytischer Anstrengung zu entwickeln und zu erproben.

In den letzten Jahrzehnten haben sich die Interaktionen zwischen den „zwei Kulturen“ vor allem an zwei Kreuzungspunkten verdichtet: (1) dort, wo Informatik und Biowissenschaften interagieren, (2) dort, wo die Künstler mit den Möglichkeiten elektronischer Medien operieren. Dazwischen eröffnet sich ein Wissens- und Spielfeld, dem die Entwürfe und Innovationen, die Kreationen und Vorhaben entspringen, mit denen die Zukunftsbilder unserer Wissensgesellschaft fabriziert werden. Genau dieses Feld steckt das Thema LIFE SCIENCES – KUNST – MEDIEN ab, mit dem das ZfL im Oktober die Veranstaltungsreihe WISSENSKÜNSTE eröffnet. Der aktuellen, vor allem im Zeichen der Ethik geführten Genetik-Debatte, die nicht nur festgefahren ist, sondern auch daran krankt, daß Fragen nach so fundamentalen Begriffen wie ‚Leben‘, ‚Mensch‘ und ‚Selbstbestimmung‘ mit Definitionen aus der Molekular- und Zellbiologie beantwortet werden, scheint es vor allem an Phantasie zu mangeln. Mithilfe der Videos, Installationen, Performances und digitalen Bilder der Künstler, die an den WISSENSKÜNSTEN teilnehmen, gewinnt das Durchbuchstabieren des ‚posthumanen Zeitalters‘ an Konkretion und Sinnlichkeit; zugleich werden dabei die mythischen und magischen Momente, die den neuen Technologien innewohnen, freigesetzt. Was es etwa heißt, wenn die inflationäre Rede von der ‚Schnittstelle Körper-Maschine‘ wörtlich genommen wird, erläutert der australische Medienkünstler Stelarc in dem vom ZfL mit ihm geführten Interview. Demonstrieren wird er es am Eröffnungsabend der WISSENSKÜNSTE, an dem er mit dem 'grand old man' der literarischen Avantgarde, dem Medientheoretiker Oswald Wiener, zusammentreffen wird. Insgesamt gibt die Reihe Einblick in den Stand der Theorie und Kunst im Zeitalter der gentechnologischen Replikation. Den Abstand zu Benjamins Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit (1935) signalisieren Fragen wie: Was trennt das Videobild vom Double, was den Avatar vom fiktiven Helden der Literatur, was hat der Klon mit dem Doppelgänger gemein, die Kopie mit der Zellteilung, und was unterscheidet die Replikation von der Reproduktion? Die Dimensionen medialer Vervielfältigungen wurden von dem Historiker Hillel Schwartz in seiner Studie zur Culture of the Copy (1996) untersucht, aus der wir hier einen Ausschnitt abdrucken. Er wird zusammen mit Laurie Anderson das Jahresprogramm beschließen.

Die benötigte zweijährige Planungsphase für diese Veranstaltung ist vor allem der Tatsache geschuldet, daß die so dringend geforderte Interaktion zwischen Wissenschaft und Kultur/Kunst zwar allerorten im Munde geführt wird, konkrete Vorhaben aber durch das herrschende politische Spartendenken blockiert werden. Eine großzügige Unterstützung durch den Kulturhauptstadtfonds hat es schließlich ermöglicht, im Jahre 2001/2002 einen Probelauf zu starten.

Die diesjährige JAHRESTAGUNG, mit der das Zfl seine Forschungen präsentieren und zur Diskussion stellen will, ist dem Forschungsschwerpunkt zur Europäischen Kulturgeschichte gewidmet, der in Trajekte Nr. 2 vorgestellt wurde. Unter dem Titel Figuren des Europäischen soll es am 18.-20. Oktober um exemplarische Studien und theoretische Erörterungen zu Forschungsperspektiven einer europäischen Kulturgeschichte gehen. Nicht zuletzt wird dabei auch die Perspektive der Kulturwissenschaften in Europa zur Debatte stehen, vermitteln doch die deutsche wie auch europäische Forschungspolitik derzeit den Eindruck, als ob sie die Geistes- und Kulturwissenschaften zu dem „Verzichtbaren“ rechnen.