Zentrum für Literaturforschung (Hg.)
[Vergriffen!]

Heft 8

Trajekte 8
Berlin 2004, 48 Seiten
  • Aus dem Archiv
    Brief an Gisela Warburg vom 14. Mai 1929 (Aby Warburg)
    Gegen die Pioniere der Diesseitigkeit! (Dorothea McEwan)
  • Judentum als Schlüssel zur Religions- und Kulturtheorie (Martin Treml)
  • Bildessay
    Shirin Neshat: „Tooba“ (Hilke Wagner)
  • Shirin Neshat: „Women of Allah“ (Maryam Mameghanian-Prenzlow)
  • Korrespondenzen
    Der Familienroman der biblischen Patriarchen (Stéphane Mosès)
  • Literaturtage
    Poesie und Wissen - Programmheft
  • Aus der Arbeit des ZfL
    Der Märtyrer und der Souverän. Szenarien eines modernen Trauerspiels, gelesen mit Benjamin und Schmitt (Sigrid Weigel)
  • Religion und Literaturforschung (Forschungsschwerpunkt I)

Carolyn Steinbeck • Gestaltung

Leseprobe

Sigrid Weigel

Im Schlußwort zu seinem Beitrag über Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920) erklärte Aby Warburg, daß es ihm neben der Untersuchung des historischen Gegenstandes auch darum gegangen sei zu zeigen, „wie sich bei einer Verknüpfung von Kunstgeschichte und Religionswissenschaft die kulturwissenschaftliche Methode verbessern läßt.“ Sein Statement kann auch auf andere geisteswissenschaftliche Fächer übertragen werden. Im Bereich der Philologie wird es durch die Arbeiten Walter Benjamins verkörpert, der wie Warburg zu jenen Begründern einer fachübergreifenden Kulturwissenschaft gehört, für die die Analyse nicht nur der Transformation, sondern v.a. auch des Nachlebens religiöser und kultischer Überlieferungen in der Moderne von zentraler Bedeutung ist.

An diese wissenschaftliche Tradition schließen auch die Forschungen des ZfL an, für deren Entwicklung – neben wissensgeschichtlichen Themen – religionshistorische Fragestellungen eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Als es jüngst darum ging, eine über die derzeitige Laufzeit hinausreichende Perspektive für ein Zentrum für Kultur- und Literaturforschung zu formulieren, ist deren zentrale theoretische Bedeutung noch einmal fixiert worden: „Das Zentrum hat die Empfehlung des Wissenschaftsrats für die GWZ zur Forschung ‚in Grenz- und Überschneidungsbereichen mehrerer Wissenschaften’ dahingehend konkretisiert, daß sein Forschungsfeld durch jene Defizite umschrieben wird, die aus der Technik- und Religionsvergessenheit der Geisteswissenschaften und der Geschichts- und Kulturvergessenheit der Natur- und Technikwissenschaften entstehen. Insofern werden die Forschungskonfigurationen der Einzelprojekte gezielt in epistemischen Spannungsfeldern angesiedelt: an der konfliktreichen Schwelle zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Paradigmen und im Leerraum zwischen der Geschichte von Kulturtechniken und den Ungleichzeitigkeiten von Modernisierung, Säkularisierung und Zivilisation. [...] Angesichts des in weiten Teilen der Kulturwissenschaften zu beobachtenden Auseinanderdriftens oppositioneller Schulbildungen – hier technisch-mediale, dort kulturanthropologische Ansätze – verknüpfen die Forschungen des Zentrums den doppelten Ursprung des Kulturbegriffs: einerseits poiesis/techne, andererseits Kult/Ritus.“ Dabei ist es das Feld sprachlicher und visueller Darstellungen, sind es Diskurse, Symbolsysteme und Medien, in denen die Spannungen zwischen technik- und religions-dominierten Kulturen aufeinandertreffen: Schauplätze der Verhandlungen zwischen unterschiedlichen Wissens- und Religionskulturen, die zu den bewährten Untersuchungsgegenständen kulturwissenschaftlicher Forschung zählen.

Die vorliegende Nummer der Trajekte ist der Relevanz religionshistorischer Phänomene für die Kulturwissenschaft und damit einem jener Schnittpunkte gewidmet, in dem sich mehrere Vorhaben des ZfL treffen. Im Rahmen der derzeitigen Struktur betrifft dies v.a. die im Forschungsschwerpunkt I zur Europäischen Kulturgeschichte versammelten Projekte: Forschungen zur ‚Dialektik der Säkularisierung’, zur ‚Poetik der Körperschaften’, deren abendländisches Grundmodell auf den Gemeindebegriff des Paulus zurückgeht, zum Zusammenhang von ‚Charis und Charisma’ am Beispiel des ‚puer aeternus’ sowie zur ‚Russischen Erinnerungsliteratur’, für die die Bezugnahme auf Traditionen religiöser Rhetorik eine besondere Beachtung verdient. Angesichts des sprunghaft gestiegenen öffentlichen Interesse an den Religionen und einer Art Renaissance der Religion in den Kulturwissenschaften haben die in diesen Projekten engagierten Wissenschaftler, unterstützt durch Kooperationspartner, für die Trajekte ein Panorama derjenigen Paradigmen erarbeitet, mit denen sakrale, theologische oder religionshistorische Motive gegenwärtig in den Kulturwissenschaften zum Einsatz kommen (AUS DER ARBEIT DES ZFL).

Diese Übersicht versteht sich auch als Vorbereitung zur diesjährigen Jahrestagung des ZfL, auf der die erkenntnistheoretische Bedeutung religionshistorischer Phänomene für die Kulturwissenschaften erörtert werden soll: Nachleben der Religion. Eine kulturwissenschaftliche Tagung (14.-16.10.). Mit Blick auf dieses Vorhaben sind wir besonders froh, daß unsere neue Vortragsreihe DAS ZFL IM LITERATURHAUS mit den Vorträgen zweier GASTWISSENSCHAFTLER beginnt, deren Forschungen hierfür besonders einschlägig sind: Der Vortrag im April von Stéphane Mosès, dessen Lektüren zu Rosenzweig, Scholem, Benjamin und Celan den Forschungen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte richtungsweisende Anregungen gegeben haben, steht am Anfang seines mehrmonatigen Aufenthaltes als Preisträger des Humboldt-Forschungspreises am ZfL, wo er an einem Projekt zum deutschsprachigen Ostjudentum arbeiten wird. In diesem Heft stellt er einen Ausschnitt aus einem anderen Vorhaben vor: eine Philologie der biblischen Überlieferung am Beispiel des Familienromans der biblischen Patriarchen (KORRESPONDENZEN). Georges Didi-Huberman zählt zu jenen Kunstwissenschaftlern, deren Arbeiten wesentlich dazu beigetragen haben, die Genese abendländischer Bilder aus sakralen und kultischen Traditionen zu erhellen. Dem Nachleben solcher Bildtraditionen in der Moderne sind mehrere seiner jüngeren Publikationen gewidmet, nicht nur das zuletzt erschienene Buch Images malgré tout (2003) zu Photos aus Auschwitz, in dessen thematisches Umfeld sein Vortrag im Mai gehört, sondern auch die Monographie über Aby Warburg, L’image survivante (2002).

Zunehmende Übersetzungen seiner Schriften signalisieren eine nun auch internationale (Wieder-)Entdeckung Aby Warburgs durch die Kulturwissenschaften. Allerdings ist Warburgs Auseinandersetzung mit Religion und Religionswissenschaft wie seine Aufmerksamkeit für theologische, religiöse und magische Bildprogramme bisher weitgehend im Schatten jenes Bildes geblieben, das durch den ‚Begründer der Ikonologie’ dominiert wird. Ein bislang in seiner Gänze unpublizierter Brief Warburgs vom Mai 1929 aus dem Archiv des Warburg Instituts London, den dessen Leiterin, Dorothea McEwan, als Dokument zu unserem letztjährigen Symposium zum Transfer zwischen Religion und Wissenschaft um 1900 beigesteuert hatte, wird hier abgedruckt und von ihr und von Martin Treml kommentiert. Der Text zeigt, wie engagiert Warburg in Fragen der religiösen Überlieferung des Judentums war (AUS DEM ARCHIV).

Daß Säkularisierung nicht in der ‚Übertragung’ theologischer Begriffe ins Staatsrecht aufgeht, wie die Politische Theologie Carl Schmitts formuliert, kann als eine der Lehren des 11. September und seiner nachfolgenden Kämpfe angesehen werden. In dem Beitrag von Sigrid Weigel Der Märtyrer und der Souverän wird vorgeschlagen, Walter Benjamins Beiträge zur Säkularisierung zu nutzen, um die Blindheit der intellektuellen Kritik gegenüber den aktuellen Formen einer Märtyrer-Politik zu überwinden (AUS DER ARBEIT DES ZFL). Hier gehen auch Überlegungen aus der Mitarbeit im Berliner Seminar ein, einem Arbeitskreis am Wissenschaftskolleg zu Berlin, in dem Arabisten und Literaturwissenschaftler an vergleichenden Untersuchungen zu arabischen und europäischen Literaturen arbeiten und in dessen Rahmen auch ein Workshop zur Geschichte von Märtyrern in Islam, Judentum und Christentum stattgefunden hat. Dieser Arbeitskreis antwortet nicht zuletzt auf die zunehmende Bedeutung der islamischen Traditionen für Gegenwartskultur und Zeitgeschichte. Wie auch in anderen Fällen ist die Kunst ein Seismograph derartiger Verschiebungen der Aufmerksamkeit; das belegt der Auftritt von Shirin Neshats Installationen auf der Bühne des europäischen Kunstbetriebs während der letzten Dekade. Ihren Arbeiten, die im Feld zwischen Politik und Religion, zwischen Tradition und Moderne einen vielstimmigen Diskurs inszenieren, ist deshalb der BILDESSAY dieses Heftes mit zwei Kommentaren gewidmet.

Neben einem reichhaltigen Vortragsprogramm (KALENDER) sind im Mai unsere zweiten LITERATURTAGE im Literaturhaus Berlin geplant: Lesungen von Inger Christensen, Dietmar Dath, Ulrike Draesner, Aris Fioretos, Durs Grünbein und Oskar Pastior sowie Podiumsdiskussionen der Autoren im Gespräch mit Klaus Reichert zum Thema Poesie und Wissen. Dabei sind sowohl die deutlich literarische Neugier an Phänomenen des wissenschaftlichen Fortschritts und die Antworten der poetischen Einbildungskraft zu diskutieren als auch Korrespondenzen zwischen Poetologie und logischen, philosophischen oder anderen theoretischen Systemen zu befragen.

Anmerkungen

(1) Das vollständige Konzept ist abgedruckt im Jahresbericht 2002 der Berliner GWZ.

(2) Geleitet von Dr. F. Pannewick/Prof. A. Neuwirth (beide FU) und Dr. M. Treml/Prof. S. Weigel (beide ZfL).