The New Historicism in Contemporary Literature and Media Culture
In den letzten Jahren haben historistische Stoffe in Romanen, Filmen und TV-Serien eine ungeahnte Blüte erlebt. Das Projekt fragt nach den gesellschaftlichen, kulturellen, medialen und geschichtstheoretischen Implikationen dieses Booms.
Offenbar entwickelt eine Zeit, die einem allgemeinen Konsens zufolge unter einem sagenhaften Beschleunigungsdruck leidet und zugleich mit dem Verlust positiver Zukunftsvisionen zu kämpfen hat, eine besondere Faszination für die Vergangenheit. Deren mediale Aufbereitung ist aber nicht mehr jenem Orientierungsversprechen für die Gegenwart geschuldet, das einst von dem guten alten ›Kollektivsingular‹ Geschichte (Reinhart Koselleck) ausging. Im Neuen Historismus zerfällt die Geschichte wieder in – zudem oft nostalgisch angehauchte – Geschichten. Auf diese Weise unterhält er gewisse Affinitäten zum ›ersten‹ oder ›alten‹ Historismus des 19. Jahrhunderts. Womöglich verfolgt er in einigen seiner Auswüchse sogar die Strategie einer umfassenderen Musealisierung der Kultur, die Philosophen wie Hermann Lübbe als Reaktion auf einen »änderungstempobedingten Vertrautheitsschwund« zu fassen versucht haben.
Klären lassen sich solche Probleme heute allerdings nur im intermedialen Vergleich und in globaler Perspektive. Welche Rolle spielt die Digitalisierung im Rahmen der Verbreitung des Neuen Historismus? Zum einen scheint sich die ästhetische Verarbeitung von Vergangenheiten den Zwängen eines permanenten Lebens in Echtzeit zu widersetzen. Zum anderen werden historistische Stoffe oft durch digitale Medien verbreitet. Wie aber reagieren literarische Texte auf diese Spannung? Bilden sie sie ab, oder suchen sie umgekehrt nach Möglichkeiten, ihr gerade dort zu entkommen, wo sie am Boom historistischer Stoffe teilhaben?
Und wie gestalten sich solche medialen Differenzen unter interkulturellen und globalen Gesichtspunkten? Ist die Nation im Neuen Historismus noch (oder wieder) eine dominante Kategorie? Erweist sich der Neue Historismus insgesamt als ein Produkt exklusiv des ›globalen Nordens‹? Wie verhalten sich historiographische Passagen in zeitgenössischen Romanen des ›globalen Südens‹ zum Neuen Historismus? Weisen sie ihn unter der Hand als eine politikvergessene Luxusübung aus? Oder zeugt der Neue Historismus womöglich vom Versuch einer ›(Selbst-)provinzialisierung Europas‹ (Dipesh Chakrabarty) und bewegt sich damit auf der Höhe kritischer Globalisierungsdiskurse?
Publications
Claude Haas
- Vergangenheit oder Geschichte? Überlegungen zum Neuen Historismus in der Literatur und Medienkultur der Gegenwart, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 4 (2025) (in print)
- “Die Regeln der Wirklichkeit brechen”? Probleme des Neorealismus in Daniel Kehlmanns historischen Romanen, in: Fabian Lampart et al. (eds.): Daniel Kehlmann und die Gegenwartsliteratur. Dialogische Poetik, Werkpolitik und populäres Schreiben. Berlin/Boston: De Gruyter 2020, 329–345