Charis und Charisma
Grazie und Gewalt von Winckelmann bis Heidegger
Existentielle Erfahrungen werden in der Moderne mit Vorzug als Verlust des Gleichgewichts bebildert, auf den der Absturz ins Bodenlose folgt. Als inständig umworbene Gegenentwürfe treten feine Figuren der Balance in den Blick, die ihr Ideal von ›Schönheit (in) der Bewegung‹ – Grazie – im Jongleur, Fechter, Tänzer, Akrobaten und im ›Artisten‹ finden. Vor allem der in tödlicher Höhe arbeitende Seiltänzer rückt zum Emblem ungesicherter Existenz und dann des Künstlers auf. In diesem Buch – gewidmet der Vor- und Nachgeschichte der Seiltänzer-Szene in Nietzsches Zarathustra – wird die Grazie der Moderne in ihrer Verschränkung mit Macht und Gewalt verhandelt. Die von der Würde zunehmend entkoppelte Grazie des Klassizismus zerfällt in Charis, die erotisch zweideutige Anmut, und Charisma, das den neuen Gott verkündende Propheten- und Herrschertum. Dabei läßt sich eine Affinität studieren: die Macht der Anmut auf der einen, die Grazie, der Charme des Charismatikers auf der anderen Seite.