Schwarze Tuschezeichnung auf schwarzem Grund, die Fischer und Fischerboote am Strand und auf dem Meer zeigt.

Leben in Relation. Fischergemeinschaften und die Transformation der Küste in der italienischen Kultur der Moderne

Das allmähliche Verschwinden handwerklicher Fischergemeinschaften im Italien des 20. Jahrhunderts gibt einen Einblick in die epistemische und sozioökonomische Gewalt, die mit der raschen Modernisierung des Landes einherging. Der Umwelthistoriker Marco Armiero hat jedoch 2001 das »Fehlen der Stimme der Fischer« in der italienischen Geschichtsschreibung diagnostiziert, was für ein Land mit einer so ausgedehnten Küste wie Italien erstaunlich ist. Die Figur des Fischers fehlt aber auch in einflussreichen philosophischen Abhandlungen, in denen man ihre Präsenz erwarten könnte, wie beispielsweise Hans Blumenbergs Schiffbruch mit Zuschauer (1979).

Dabei stellen Fischer in der bildenden Kunst, Literatur sowie im Kino Italiens nach der Vereinigung 1861 die Grundsätze der Moderne infrage. In der Malerei der Impressionisten im 19. und der Realisten im 20. Jahrhundert, in Romanen und Erzählungen wie Giovanni Vergas I Malavoglia (1881), Giovanni Comissos Gente di mare (1929) und Stefano D’Arrigos Horcynus Orca (1975) sowie in Filmen wie Luchino Viscontis La terra trema (1948), Roberto Rossellinis Stromboli (1950) und Gianfranco Rosis Fuocammare (2016) werden Fischergemeinden gezeigt, die an der Küste den Grenzbereich zwischen Land und Meer bewohnen. Über die Darstellung des Konflikts zwischen Tradition und Moderne, Rückstand und Fortschritt, Vergangenheit und Zukunft, ›primitiv‹ und ›entwickelt‹ hinaus zeugen diese Werke von der Lebensweise, den Vorstellungen, Praktiken, dem Wissen und dem Weltverständnis dieser Gemeinschaften. Handwerkliche Fischergesellschaften sind Träger dessen, was Édouard Glissant als »archipelagisches Denken« bezeichnet hat. Ihre relationale Art, die Küste zu bewohnen, verbindet belebte und unbelebte Wesen zu einem komplexen Netzwerk gegenseitiger Abhängigkeit. Darüber hinaus steht ihre ständige Bewegung des »Aufbrechens und Zurückkehrens« im Gegensatz zu dem, was der Soziologe Franco Cassano in seinem Buch Mediterranes Denken (1996) als die »ozeanische Maßlosigkeit« moderner kolonialer Bestrebungen beschrieben hat.

Das Projekt untersucht Darstellungen handwerklicher Fischergemeinschaften in der modernen italienischen Kultur aus einer kritischen anthropologischen, ökologischen und dekolonialen Perspektive. Auf Grundlage einer Lektüre, die die ethnografischen Spuren dieser Werke aufdeckt, wird eine ›Ontologie der Fischer‹ skizziert, die sich den Mustern des modernen westlichen Denkens widersetzt. Die Untersuchung ermöglicht darüber hinaus eine Rekonstruktion der Territorialisierungsprozesse, denen die italienische Küste in ihrer modernen Geschichte unterworfen wurde, und eröffnet neue Perspektiven auf aktuelle politische und ökologische Krisen. Nicht zuletzt führt die Hinwendung zu Fischergemeinschaften über nationale Narrative hinaus und lädt zu einer vergleichenden, globalen Untersuchung ihrer Darstellungen ein.

 

Abb. oben: Giovanni Omiccioli: Fischerwettbewerb, Scilla 1950 (Ausschnitt), Quelle: Fondazione Omiccioli – Archivio

2025–2026
Leitung: Chiara Caradonna

Veranstaltungen

Vortrag
29.12.2025

Chiara Caradonna: Fisher of Men. Modern Transformations of a Trope between Sacred and Profane

online

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Diskussion
03.11.2025 · 19.00 Uhr

Pier Paolo Pasolini’s Unstable Geographies

ICI Berlin, Christinenstraße 18-19, 10119 Berlin

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Vortrag
30.10.2025 – 31.10.2025

Chiara Caradonna: Caliban le pêcheur. La côte comme espace d’exploitation et de résistance

Sorbonne Université, Paris, Frankreich

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Vortrag
12.09.2025

Chiara Caradonna: »Chi me lo dà l’occhio che avete voi?« Antropologia critica e ribaldamento del punto di vista nella genesi di Horcynus Orca

Universität Genua, Italien

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